Arbeitsgemeinschaft Multiples Myelom

Arbeitsgemeinschaft Multiples Myelom (Plasmozytom, Morbus Kahler)
Online-Netzwerk für Patienten/-innen und Angehörige

Kleine Lebensgeschichte

Betreff: Kleine Lebensgeschichte
02 Dez 2020 23:24
  • Cristalina
Mein Mann ist vor etwa 4 Wochen mit 65 Jahren verstorben.
Er bekam seine Erstdiagnose vor 25 Jahren, als Vater von 4 Kindern zwischen 1 Jahr und 8 Jahren, als Ehemann einer Frau, die damals 33 Jahre jung war. Die Ehe zerbrach sehr schnell nach der Diagnose, aber er war immer noch Vater, der zunächst noch in der Familie lebte und danach jeden Tag seine Kinder sah und sich um sie kümmerte. Bis sie dann so alt waren, dass sie sich von den Eltern abnabelten. Dank der hervorragenden Betreuung durch das Myelomzentrum in Heidelberg und seiner Onkologen vor Ort erhielt er jede denkbare Therapie. Es gab sehr dunkle Zeiten, als er fast an einer Sepsis gestorben wäre. Und er war in Folge einer Operation stark gehbehindert.
Dennoch war er ein glücklicher Mensch - mit Phasen kompletter oder fast kompletter Remission, mit Rezidiven, mit Chemotherapien, Bestrahlungen, Stammzelltransplantationen - das ganze Programm. Natürlich gab es Unglück, das Scheitern einer Ehe schmerzt, das Alleinsein schmerzt.
Er arbeitete bis zu seinem 63. Lebensjahr, auch wenn das Laufen ihm immer schwerer fiel.

Ich lernte ihn kennen, als er 53 war. Er sagte mir beim zweiten Treffen, dass er sehr krank ist und dass diese Krankheit und die langjährigen Therapien schwerwiegende Auswirkungen hatten. Aber schon bei diesem Treffen wussten wir, dass wir zusammengehören. Das mag furchtbar kitschig klingen, aber es war unser Wunder. Wir waren glücklich, auch in Zeiten, in denen die Krankheit wieder aufflammte, wussten wir, dass das unserer Partnerschaft und späterer Ehe nichts anhaben konnte.
Wir waren in der Lage, zu reisen. Der Radius war zwar begrenzt, aber wir fanden immer ein Ziel, das wir gut erreichen konnten. Wir haben unser gemeinsames Leben genossen, so gut wir konnten. Wir haben beide gearbeitet, es gab viel Stress. Aber dennoch war das Glück auf unserer Seite.
Mein Mann wurde 25 Jahre lang therapiert, er hat seine Kinder aufwachsen sehen, hat erlebt, wie sie die Schule beendeten, wie sie ihre Ausbildung und Studium absolvierten, konnte eine Tochter bei ihrer Hochzeit begleiten und war stolzer Großvater. Wir alle spürten zwar immer irgendwie das Damoklesschwert über uns, aber es hing oft so hoch über uns, dass wir es nicht mehr sahen. Wir hatten ein gutes Leben, zu dem auch viel Verdrängung gehörte.
Vor einem Jahr wurde dann immer deutlicher, dass mein Mann die medizinische Entwicklung quasi überholt hatte. Die Therapien halfen nicht mehr. Er musste lange auf eine Studienteilnahme warten. Die Therapie im Rahmen der Studie musste jedoch schnell abgesetzt werden, er bekam zwei fürchterliche Salvage-Therapien. Im Jahr 2020 war er sicher mehr im Krankenhaus als zu Hause. Seine Möglichkeiten schwanden, er beschäftigte sich mit Lesen, Hörbuchhören, Basteln. Ich konnte in seinen drei letzten Lebenswochen ganz und gar für ihn da sein. Er verstarb auf einer Palliativstation, er wusste, dass er sterben würde, er wusste, dass er liebte und dass er geliebt wurde. Eine Woche vor seinem Tod hat er mir eine Sprachnachricht geschickt, und mir gesagt, dass er glücklich ist, mit mir zu leben. Diese Nachricht werde ich nie löschen.
Natürlich sind die Menschen, ihre Krankheitsverläufe, ihre Lebensumstände alle sehr unterschiedlich. Es wäre dumm zu glauben. dass viele Erkrankte diese Krankheit so lange überleben können. Für mich ist mein Mann ein Beispiel dafür, dass es im Leben auf eines ankommt: zu leben. Nicht exzessiv, nicht auf Kosten anderer, aber im Bewusstsein, dass auch kleine Glücksmomente kostbar sind und die großen Glücksmomente ein unglaubliches Geschenk sind. Wir hatten das große Glück uns zu begegnen, und haben uns aufeinander eingelassen.
Und ich fürchte, ich habe ihm zu Lebzeiten nicht oft genug gesagt, wie dankbar ich ihm bin, dass er mir vorgelebt hat, dass man trotz schwerer Behinderung und Krankheit ein glückliches und erfülltes Leben haben kann. Mit allen Höhen und Tiefen.
Ich vermisse meinen Mann in jedem bewussten Augenblick. Ich höre ihn nachts nicht mehr atmen, er spricht tagsüber nicht mehr mit mir. Er ist nicht da, wenn ich aufstehe, wenn ich zu Bett gehe, wenn ich nach Hause komme. Er ist einfach gegangen. So glücklich wir waren, so traurig bin ich jetzt. Ich will versuchen, irgendwann wieder glücklich zu sein, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.
Ich wünsche euch allen, dass ihr glücklich sein könnt, und euch an das Glück erinnert, auch wenn dunkle Tage kommen. Und dass ihr nicht alleine seid.
Eure Christine

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Antwort auf Kleine Lebensgeschichte
03 Dez 2020 00:50
  • Gordon_Bloeh
  • Gordon_Bloehs Avatar
  • 201 Beiträge seit
    02. Apr 2016
Liebe Christine, danke für Deine Geschichte. Ist für mich sehr auferbauend und berührend.
Wünsche Dir alles Gute.
Henry

Wie sagte einmal ein Myelompatient: "Geniesse das Leben, es kann länger dauern, als du denkst"!

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Antwort auf Kleine Lebensgeschichte
03 Dez 2020 23:30
  • Logopädin
  • 410 Beiträge seit
    06. Feb 2016
Liebe Christine,
danke für das Teilen dieser wundervollen Erfahrung.
Sie hat mich sehr berührt.
Fühl dich umarmt und gedrückt
von
Nicole

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Antwort auf Kleine Lebensgeschichte
04 Dez 2020 06:59
  • Monalisa
Liebe Christine

Ein wundervoll trauriger Bericht.
Es spricht soviel Liebe aus deinen Zeilen.
Schön das ihr euch gefunden habt.
Ich wünsche dir trotz dem Leid und der Trauer die du nun empfindest
Eine schöne Adventszeit mit wundervollen Erinnerungen an deinen Mann.
Bleib gesund

Margit

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Antwort auf Kleine Lebensgeschichte
04 Dez 2020 11:11
  • Angelika52
  • Angelika52s Avatar
  • 328 Beiträge seit
    04. Mai 2016
Liebe Christine

Jetzt musste ich erstmal kräftig schlucken ...dann habe ich die große Liebe und ein erfülltes Leben aus Deinen Zeilen herausgelesen.

Großen Dank das Du Deine und die Lebensgeschichte Deines Mannes mit uns geteilt hast.

Alle Guten Wünsche für die Zukunft
Angelika

Wir sind, was wir denken.
Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt. -Buddha -

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Antwort auf Kleine Lebensgeschichte
04 Dez 2020 21:10
  • Ina82
  • 125 Beiträge seit
    28. Feb 2019
Obwohl die kleine Lebensgeschichte sehr sehr traurig ist, hat sie soviel positives. Es ist schön jemanden in seinem Leben zu finden, mit dem man so glückliche Momente und Gefühle erleben darf, trotz immer wieder harten Zeiten der Krankheit. An einigen Stellen hatte ich Gänsehaut.
Wenn die Zeit gekommen ist, wünsche ich von Herzen wieder schöne Momente.

Ina

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